Lieber Raubwürger,
entschuldige bitte, dass ich dich hier direkt anspreche, obwohl ich weiß, dass dir die menschliche Sprache fremd ist und diese Zeilen dir niemals bekannt werden können…
Entschuldige bitte auch, dass ich dich so anspreche, als ob all die Raubwürger, die ich gesehen habe ein einziges Individuum wären, als ob du „DER“ Raubwürger wärst wie „DER Wolf“, den nur Rotkäppchen kennt…
Wofür ich mich nicht entschuldige ist, dass ich dich mit deinem deutschen Namen „Raubwürger“anspreche, der mythisch gefärbt ist weil aus einer Zeit stammend, in der Mythen Wissenslücken füllten. Deshalb finde ich ihn ehrwürdig, aber er ist ornithologisch überkorrekten Menschen ein Dorn im Auge, weil sie ihn für diskriminierend halten. Ich weiß, dass du nicht raubst, sondern töten musst um dich und deine Jungen zu ernähren. (Mit dem Würgen ist das allerdings ne andere Sache, ich komme später darauf zurück…)
Also, von „Raub“ kann man nicht sprechen weil es in deiner Welt kein Eigentum gibt, du in deiner ökologischen Nische niemandem etwas weg nimmst und deshalb menschliche Moralvorstellungen in deiner Welt nichts zu suchen haben. Du bist durchaus bereit zu töten, hauptsächlich Insekten von denen du, wie ich beobachtet habe, vorwiegend lebst. Aber auch einen kleinen Vogel oder eine Maus bringst du ungerührt um wenn sich die Gelegenheit bietet oder wenn du im Winter keine Insekten findest… und du spießt sie sogar auf dornige Zweige, als Vorrat für ganz knappe Tage :
Ich habe dich in mindestens 10 verschiedenen Biotopen und vielen Situationen in meinem unmittelbaren Umkreis von ca. 25km beobachtet und hänge deshalb besonders an dir weil du der erste Vogel bist, den ich länger beobachtet und den ich immer wieder gern und in überraschenden Situationen erlebt habe. Das Biotop, in dem ich dich erstmals sah und das ich in wenigen Minuten von zu Hause aus erreichen kann ist eine Heidelandschaft, ein touristisches Relikt, das dir zu Gute kommt und du jagst dort vorwiegend in einem Areal von ca. 400x400m:
Meistens sehe ich dich schon von weitem und ohne Fernglas als kleinen, hellen Punkt auf einer Wacholderspitze, von der aus du Ausschau nach Beute hältst:
Du hältst fast immer großen Abstand und deine Fluchtdistanz ist nach meinen Beobachtungen meist ca. 200m.
Aber ich habe dich auch schon in ganz anderen Biotopen gesehen und mich über deine Anpassungsfähigkeit gewundert.
In einer Agrarlandschaft hast du regelmäßig auf Stromleitungen angesessen.
Als die Strommasten verschwunden waren bist du auf Strohballen als Ansitz ausgewichen:
In einem anderen Biotop hast du mitten im Wasser das Gezweig eines abgestorbenen Baums als Ansitz gewählt…
und als das Wasser abgelassen war…
hast du eine Wurzel auf dem Teichgrund als Ansitz benutzt…
und von dort aus Insekten und kleine Wassertiere gejagt:
Einmal hab ich beobachtet, wie du sehr merkwürdig den Schnabel aufgerissen hast und dachte du gähnst, weil ich das von müden Menschen kenne, aber du bist keine Mensch…
und erst als ich einen Verwandten von dir, den Neuntöter dabei beobachtet habe, wie er einen Speiballen mit Resten von Insektenballen auswürgte hab ich gewusst, warum auch du gelegentlich würgst (kommt daher vielleicht dein Name?):
Manchmal steigst du hoch auf und stehst rüttelnd, wie festgenagelt, in der Luft um nach Beute Ausschau zu halten:
Ich habe auch gesehen wie du du aufgestiegen bist, um einen anderen Raubwürger zu vertreiben…
und vermute, dass es sich dabei um eines deiner Jungen handeln könnte dem du drastisch zu verstehen gabst, dass es sich ein eigenes Revier suchen soll, denn jedes Jahr bist du von Ende März bis Ende Juli aus dem Biotop verschwunden, in dem ich dich am häufigsten beobachte…
und kommst dann mit einem zweiten Artgenossen zurück…
von dem ich wegen seines helleren Schnabels, seines weißen Armdeckenrands und seiner rundlichen Körperform annehme, dass er ein Jungvogel ist:
Einmal habe ich seine Bettelrufe gehört (eine äußerst seltene Aufnahme für die ich dir sehr dankbar bin…), als du im Wipfel einer Birke gesessen hast…
und er von einem Wacholder aus zu dir hin flog:
Ein anderes mal habe ich gesehen wie ihr von einem Grünspecht angefeindet wurdet…
aber bald darauf warst du wieder allein und brauchtest deine Beute nicht mehr zu teilen.
Ach, niemals hab ich dich singen gehört: In all den Biotopen, in denen ich dich gesehen habe bist du stumm geblieben.
Nur einmal, ein einziges Mal, hab ich aus einem Heidebiotop verwundert einen Gesang gehört, den ich noch nie zuvor vernommen und auch seither nie wieder gehört habe.
Erst zu Hause bin ich auf die Idee gekommen, dass du das gewesen sein könntest. Ich hab mir vergleichend Tonaufnahmen anderer Beobachter angehört und war danach sehr froh, dass du mir zuerst einen deiner verschiedenen Gesangstypen herübergeschickt hast:
und gleich darauf noch einen anderen…
Wenig später hast du mich ein einziges Mal so nah herankommen lassen, dass ich ein richtig gutes Foto von dir machen konnte…
und ich bedanke mich sehr dafür, obwohl ich natürlich weiß, dass dieser Dank dir völlig egal wäre, selbst wenn er dich erreichen würde.
Sieh es mal so: Du bist jetzt und hier der Stellvertreter für all die Vögel, die ich beobachten durfte und die mir dankenswerter Weise die Gelegenheit gaben ein mehr oder weniger gutes Foto von ihnen zu machen… Kannst es ja weitersagen…
Bis demnächst mal, lieber Raubwürger!
Dein Mitlebewesen Mano
Der Raubwürgerbericht hat mir sehr gut gefallen. Das Biotop in der Nähe von Hermannsburg haben wir in unserem Urlaub mehrfach erwandert, aber diesen Vogel nicht gesehen. Dafür haben wir dort den Kuckuck gehört, so oft wie nie zuvor. Vielen Dank für Deine Berichte!
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Wunderschön!
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